26.03.2009

Achtung Hilfsmittel



Seit einigen Monaten beobachte ich mit wachsender Sorge die Entwicklung auf dem Hilfsmittelmarkt. Nicht dass die Katastrophe nicht schon längst da wäre: „Kassensturz“ und „Beobachter“ berichten seit über einem Jahrzehnt mit erschreckender Regelmässigkeit über die total überrissenen Preise im Hilfsmittelmarkt. In der Analyse legen sie den Finger auf den wunden Punkt: die Versicherungen (IV, Krankenkassen, Militärversicherung und SUVA etc.) „zahlen und zahlen und zahlen“, weil kein echter Markt existiert. Kartellabsprachen sind systematisch im Gesetz vorprogrammiert.

Ich hab ja im Behindertenwesen schon einiges erlebt, aber als ich heraus fand, dass unser („neues“) Kartellgesetz den IV- und Gesundheitsbereich ausdrücklich aus seinem Geltungsbereich ausklammert, haben sogar mir vor Erstaunen die Ohren gewackelt!

Wir Betroffenen erleben die Kehrseite der selben Medaille: Die Entwicklung von Elektrollstühlen scheint vor etwa 30 Jahren stillgestanden zu sein. Trotzdem kostet so ein Ding heute mehr als ein Kleinwagen. Doppelt und Dreifach mehr als im Ausland – wo die Preise ebenfalls überrissen sind und die Qualitätsentwicklung oft nicht weniger lausig ist.

Das Hauptproblem: Obwohl es auf dem Weltmarkt durchaus genügend Kunden für E'Rollis gäbe, aber jedes Land im Hilfsmittelbereich „Heimatschutz“ betreibt, sind die einzelnen Märkte zu klein. Kartelle und (staatlich gesicherte) Monopole in den einzelnen, abgeschotteten Märkten verhindern die Entwicklung. Wenn es um Behinderte geht, betreiben die meisten Länder nicht Markt- sondern Planwirtschaft nach sowietischem Vorbild – mit den selben Folgen. ((Ob das wohl damit zusammen hängt, dass die meisten Parteien die eigentliche Bewirtschaftung der Behinderten der Sozialdemokratie überlassen, so lange sie selber die Hand am Geldhahn behalten können?)).

Seltsamerweise verlieren auch Konsumentenorganisationen wie der „Kassensturz“ ihren Kopf wenn sobald es um Behinderte geht: statt Konsumentenschützer (der die Interessen der Behinderten wahrnimmt die auf die Hilfsmittel angewiesen sind) werden sie zum Staatsschützer! So schlägt z.B. der Kassensturz, der sonst so gern für die Liberalisierung der Märkte und gegen Staatsmonopole kämpft, vor, dass die IV selber als Monopoleinkäufer auftreten und dadurch Mengenrabatte heraus schlagen solle. Um die Absurdität dieses Vorschlags zu begreifen, müsste man sich vorstellen, der Kassensturz schlüge vor, dass der Staat für seine Bürger z.B. Autos einkaufen würde. 3 Standartautotypen die nach seinem Gutdünken den Bedürfnissen der Autofahrer „wirtschaftlich und zweckmässig entsprechen“ und diese in grossen Mengen bestellt, mit entsprechendem Mengenrabatt natürlich. Da könnte man doch auch viel Geld sparen! Man erinnere sich an den berühmten sowietischen Standartbüstenhalter....

Im Grunde genommen handelt der Kassensturz aber durchaus Systemkonform: Der Kunde ist König. Und Kunde für Hilfsmittel ist eben nicht der Behinderte, sonder der Staat, sprich der Steuer- bzw. der Kassenprämienzahler. Der bezahlt und befiehlt. Wir Benutzer von Hilfsmitteln sind eben nur Klienten, die sich dankbar mit dem zu begnügen haben, was der Staat uns zubilligt. Folgerichtig in dieser Logik soll der Staat als Interessenvertreter der Steuerzahler auch seine Marktmacht nutzen.

Das alles ist Basistheorie der Volkswirtschaft: eine simple Anwendung von „wer zahlt befiehlt“. Was mich in den letzten Wochen aber wirklich erschreckt ist die Tatsache, dass die IV – nachdem sie das Problem während Jahren ignoriert hat – nun genau das tun will, was der Kassensturz vorschlägt! Im Hörgerätebereich, wo die skandalösen Kartellabsprachen und Gewinnmargen schon seit über 20 Jahren medienkundig sind, wollte sie per Ausschreibung grosse Posten an Standartgeräten einkaufen.

Ich hätte nun einen Aufschrei der Interessenvertretung der Behinderten erwartet! Schliesslich müssten sie wissen, dass es keine 2 Behinderten gibt, welche genau die selben Bedürfnisse haben. Dass nur die Betroffenen selber entscheiden können, was für sie persönlich die gute Qualität eines Gerätes ausmacht. Und dass der Staat als Einkäufer grundsätzlich kein Interesse an möglichst guten – höchstens „genügenden“ - dafür aber ein sehr grosses Interesse an möglichst billigen Geräten haben kann. Und dass ein solches Vorgehen die Vielfalt der Anbieter und Angebote verhindern, und damit letztlich auch dem Konkurrenzdruck schaden und die Qualitätsentwicklung mittelfristig lähmen muss.

Aber nein, genau das Gegenteil war der Fall: Pro Audito, die sich als Interessenvertretung der Hörbehinderten und Gehörlosen versteht, findet den Vorschlag der IV toll! Ich war schockiert. Später erwachte in mir die böse – aber natürlich unbewiesene – Vermutung, ob die Pro Audito wohl vom BSV irgend eine gut bezahlte Rolle in der Administration der „Staatshörgeräte“ versprochen bekam und damit elegant zum Schweigen gebracht wurde?

Glücklicherweise ging der vorschnelle Schuss der IV diesmal noch hinten hinaus: auf eine Klage einiger Hörgerätehersteller hin, pfiff das Bundesgericht die IV vor wenigen Tage zurück, weil der IV zu einem solchen Vorgehen schlicht die gesetzliche Grundlage fehlt.

Jetzt aber steht zu befürchten, dass die IV im Rahmen der anstehenden 6.IV-Revision still und leise eine kleine Änderung in den Gesetzen vornehmen wird. Und dann – wenn es einmal mit den Hörgeräten geklappt hat – das selbe Vorgehen bei allen Hilfsmitteln anwenden wird. Ich kann mir in meinen Albträumen schon jetzt physisch vorstellen, wie sich das Leben in einem klapprigen Bundesstandartrollstuhl anfühlen wird! Die 99% sowjetischen Frauen, denen der Staatsdurchschnittsbüstenhalter nicht genau passte, konnten ja wenigstens auf das Tragen von Bhs verzichten – was in einigen Fällen sicher auch ganz schöne Folgen für die Männer hatte. Aber wir.....

Würden unsere Politiker nicht ihre Köpfe verlieren, sobald es um Behinderte geht, wäre die einzig richtige Lösung schon längst offensichtlich. Lustigerweise wird sie bei einem der teuersten aller Hilfsmittel auch in der Schweiz längst erfolgreich und problemlos praktiziert: Behinderte die den öffentlichen Verkehr nicht benutzen können haben unter Umständen Anspruch auf ein Auto als Mobilitätshilfsmittel. Die IV kauft ihnen jedoch kein Standart-IV-Auto, sondern zahlt ihnen einfach jährlich einen Achtel des Preises des günstigsten Autos das ihren nachweislichen Bedürfnissen gerade noch entspricht und einen kleinen Reparaturbeitrag. Und Tschüss: die Behinderten kaufen sich, was SIE selber für gut halten auf dem freien Markt. Kontrollen sind gar nicht notwendig, denn die Betroffenen wissen wissen, je länger und sorgsamer sie mit dem Auto fahren, desto mehr gewinnen sie. Einige der grossen Autoverkäufer haben die Behinderten jetzt auch als Kunden entdeckt und geben uns 10% Flottenrabatt! Es gewinnen die Behinderten, die Autoverkäufer und die Steuerzahler.

25.03.2009

Behinderung in der Sprache

Eigentlich erwarte ich nicht, dass dieser Blog von vielen gelesen wird. Freuen würd es mich, wenn es jene tun, die sich wirklich dafür interessieren - nicht weil "man sollte", sondern weil sie beschäftigt, was mich beschäftigt.

Seit gestern beschäftigt mich - wieder einmal - der Zusammenhang zwischen Sprache und Behinderung. Oder vielleicht zwischen Politik und "Newspeak" . Ich war an einer Veranstaltung des Kantons Luzern eingeladen. Besprochen werden sollte das neue "Zentralschweizer Rahmenkonzept zur Behindertenpolitik in den Bereichen Wohnen, Arbeiten und Beschäftigung". Gern würde ich wissen, was ein Linguist aus diesem Titel heraus holt. Der Normalmensch könnte meinen, hier wolle der Kanton sich mit behindertengerechtem Wohnungsbau, Integration in die Arbeitswelt und Freitzeitgestaltung beschäftigen. Tönt doch sehr menschenfreundlich.
Nur Fachpersonen und gewiefte PolitikerInnen verstehen den Titel ganz anders: hierbei handelt es sich nämlich keineswegs um ein "Behindertenkonzept" - schon eher ein "behindertes Konzept" . Genauer geht es um die Frage, in welcher Weise der Kanton Behinderte VERSORGEN soll!

Es geht keineswegs um behindertengerechten Wohnungsbau - sondern um "den Bereich Wohnen" - ein Codebegriff für "Heime". Es geht nicht um die Integration in die Arbeitswelt - sondern um die Finanzierung von "Geschützen Werkstätten" - aussondernde Institutionen wo Menschen durch Arbeit irgendwie - so der gängige Glaube - therapiert werden sollen. Arbeit macht bekanntlich frei. Es ist Zwangsarbeit - ohne echten Arbeitsvertrag, ohne gewerkschaftlichen Schutz, ohne echten Lohn (üblich ist das vom Bundesgericht vorgeschriebene Minimaltaschengeld in der Höhe von 2-3 Fr. in der Stunde).

Auch das Wort "Heim" ist in sich selber schon ein schönfärberischer Code. Tönt schön, heimelig, beruhigt das Gewissen. Aber es ist eben nicht DAHEIM, sondern die Anstalt welche die "anderen" - die unerwünschten, die Abverheiten - von der Gesellschaft, von daheim, fern hält.

Bei der Arbeit am Luzerner "Behindertenkonzept" gestern, gemeinsam mit anderen Menschen mit Behinderung, wird uns einmal mehr schmerzlich klar, wie tief verwurzelt - vielleicht unausrottbar - die Vorurteile gegen uns in den Köpfen sogar der Leute verankert sind, die von Staates wegen beauftragt sind, für uns "zu sorgen". Es sind gedankliche Gefängnisse, die uns ausgrenzen aber gleichzeitig auch diese Leute fest ummauern! Wir sehen und empfinden die Mauern, können dagegen kämpfen mit mehr oder weniger Erfolg. SIE, unsere Versorger, tragen die Mauern in sich und sind oft schlicht nicht in der Lage, die eine Wirklichkeit ausserhalb ihrer gedanklichen Barrieren zu erkennen.

Beispiel die Veranstaltung gestern. Zuerst beschliessen die Innerschweizer Kantone gemeinsam ein Rahmenkonzept. DANN erst, wenn die Grundlinien feststehen, werden die "Behindertenorganisationen" eingeladen das Konzept zu kommentieren: 90% Institutionen die Behinderte versorgen - 10% Selbsthilfeorganisationen. Gehörlose, Blinde, psychisch oder geistig Behinderte sind nicht vertreten. Behinderte gehören halt in den Rollstuhl, gell?
Der Veranstaltungsort draussen in der Pampa - mit Rollstuhl in öffentlichem Verkehrsmittel gar nicht zu erreichen - in einer Militärkaserne! Als Reaktion auf die Einladung schreibe ich "ich komme gern und gehe davon aus, dass Veranstaltung und Örtlichkeiten behindertengerecht sind". Darauf erhalte ich ein erschrecktes Email: "ups, sorry, daran haben wir nicht gedacht. Was muss man unter behindertengerecht verstehen?". In meiner Antwort verweise ich auf das Handbuch "Behindertengerechte Verwaltung" das initiert vom EBGB erst vor wenigen Monaten allen öffentlichen Verwaltungen der Schweiz bekannt gemacht worden ist. Weil dies offensichtlich der Sozialbehörde von Luzern nicht bekannt ist, bemühe ich mich in meinem Email die wichtigsten Regeln für eine behindertengerechte Veranstaltung - für alle Behinderungskategorien - zu beschreiben.

Gestern: Nach 40 Minuten Fahrt durch Schneefall und eisigen Wind total durchnässt komme ich in der besagten Kaserne an. Kein warmes Getränk. Wir werden in Arbeitsgruppen aufgeteilt und stellen fest: drei Arbeitsgruppen sind behindertenfrei. Alle Behinderten in der selben vierten Arbeitsgruppe. Aus "Rücksicht" auf uns, wird uns erklärt: die Seminarräume der drei anderen Gruppen seien eben nur zu Fuss bzw. im Rollstuhl nicht erreichbar.

In der Arbeitsgruppe "dürfen" wir zum Konzept Stellung nehmen in dem wir als Gruppe 3 Punkte - nicht mehr und nicht weniger - herausarbeiten, die unserer Ansicht nach unbedingt ins Konzept gehören. Wir sollen Details verbessern. Dass die "Krüppelarbeitsgruppe" das Konzept als Ganzes in seiner grundlegenden Auslegung kritisiert ist im Ablauf nicht vorgesehen.

Auch in der Diskussion wird klar, wie gefangen wir alle in den Grenzen der Sprache sind. Während wir von Leistungen sprechen - der Finanzierung die uns ermöglicht, die benötigten Dienstleistungen auf einem freien Markt einzukaufen - hören die Veranstalter immer "Angebote" - und meinen Institutionen, die sie organisieren und kontrollieren, um unsere "Bedürfnisse" - gemäss ihren Vorstellungen - zu "versorgen".

Die zahlreichen InstitutionenvertreterInnen sprechen ständig von "Bedürfnisse der Behinderten in den Mittelpunkt stellen" - und meinen damit, dass IHRE Dienstleistungen finanziert werden müssen. Schliesslich haben sie Behinderungen studiert und erachten sich als legitime Vertreter unserer Interessen. Wir denken, sie sind Dienstleister. Wie jeder Bäcker, meinen auch sie, ihre Brötchen wären zweifellos die gesündesten. Leider sind die Klienten behindert und darum wohl zu dumm um das selber zu wissen.
Sie reden von "hohe Qualität sichern" und meinen grosszügige Ausbildungsunterstützung (und entsprechend hohe Löhne!) für sich. Wir meinen, was Qualität sei, müssten doch eigentlich wir, die "Benutzer" definieren - und wissen aus Erfahrung, dass das was wir unter Qualität verstehen mit dem Ausbildungsgrad selten korreliert. Im Gegenteil, oft scheint es, dass die Leute, die "für Arbeit mit Behinderten" ausgebildet sind, eine Sprache, ein Denken lernen, dass sie für unsere Sprache immunisiert. Sie hören uns nicht mehr als Menschen - sondern sehen uns durch die enge Röhre ihrer Fall-Diagnosen.
Sie verlangen "Zusammenarbeit" und meinen mit dem schönen Wort, dass der Kanton freien Markt und damit Konkurrenz unter den Dienstleistern verhindern soll. Zusammenarbeit zwischen dem Finanzierer und dem Dienstleister - dem Klienten darf keine Wahl gelassen werden.

Die Vertreter des Kantons schliesslich reden von "zweckmässig und wirtschaftlich" und meinen: BILLIG solls werden! Wir stellen derweil fest, dass sie vermutlich ein Mehrfaches für die Aussonderung Behinderter bezahlen, als was echte Integration kosten würde.

So, wie dieses Behindertenkonzept jetzt daher kommt - viel schönes Blahblah in der Einführung und kein Zusammenhang zwischen all den schönen Vorsätzen und dem, kleinen konkretisierenden Rest - werden die Innerschweizer Kantone in ihren jahrhundertealten Vorstellungen von Behinderung eingemauert bleiben und die grosse Chance, die sich heute dank NFA auftut, einmal mehr verpassen.
Zu faul um sich wirklich mit moderner Behindertenpolitik oder gar lebendigen Behinderten zu befassen, werden sie den Kartell-Bestrebungen der Behindertenversorgungsindustrie nachgeben - die Behinderten diesem Kartell überlassen. Als vorhersehbares Resultat, werden sie dann bald keine andere Wahl, haben als schlechte Qualität zu überhöhten Preisen einzukaufen. Das ist nämlich, was alle Kartelle unweigerlich produzieren. Das Behindertenversorgungskartell hat die Betroffenen wie Leibeigene in der Hand und wird den Kanton damit jederzeit erpressen können.

Übrigens: das erwähnte Behindertenkonzept ist nur eines von vielen. Alle Kantone sind gemäss IFEG verpflichtet, bis 201o so ein Konzept zu erstellen. Dieses Gesetz wurde auf immensen Druck der Behinderungsindustrie hin ins NFA-Paket aufgenommen. Ein Musterbeispiel von Newspeak. Das Gesetz nennt sich bei vollem Namen "Bundesgesetz über die Institutionen zur Förderung der Eingliederung von invaliden Personen". Nur wer es aufmerksam liest, wird merken, dass es sich um ein Gesetz zur Erhaltung der Institutionen zur Aussonderung Behinderter handelt. Die ZSL-Kritik zu diesem Gesetz (das ursprünglich ISEG heissen sollten) finden sie hier.